Gesprächsprotokoll | discussion

Diskussion zu »Aide Mémoire«
3. Dokfilmwerkstatt Poel am 20.09.95


Barbara Frankenstein:
Das letzte, was mir in Erinnerung ist, ist, daß er gesagt hat: "...mehr hinterlassen als ein paar Kratzer" und das andere, was mir sofort einfällt, ist: "Mit seinen Fotos wollte er die Menschen noch einmal in ihrer Würde und ihrer Lebendigkeit zeigen." Ich glaube, das wollten Sie auch. Ist das so?

MB:
Ja, das ist schon ganz richtig. Ich wollte den Jürgen in seiner Lebendigkeit noch mal aufleben lassen. Jürgen war ein guter Freund von mir, ist schon Ende 1993 gestorben, und es hat für mich selbst auch 2 Jahre gedauert bis ich soweit war, dieses Material, das sich über 3 Jahre angesammelt hatte, überhaupt in eine Fassung zu bringen, die mir recht war, die ihm hoffentlich einigermaßen adäquat war. Ich wollte ihn nicht im klassischen Dokumentarfilmsinn porträtieren. Daß er Fotograf ist, setze ich ja in dem Film voraus, obwohl er ja nicht so bekannt ist. Insofern merkt man schon am Anfang, es geht nur um ihn als Person. Das, was er sagt im Film über sich selbst, das ist eigentlich auch das, was zwischen uns beiden Thema war. Es geht los, ohne ihn offiziell vorzustellen. Es geht darum, ihn einfach so als Menschen wirken zu lassen mit seinen höchstpersönlichen Anliegen.

Barbara Frankenstein:
Es ist ja eine sehr intime Situation, die Sie herstellen, diese Innenwelt in der Wohnung, gleichzeitig diese Außenwelt: der Hof, der Leierkastenmann, die Frau. Sie haben mir vorhin erzählt, daß das Ihr erster Dokumentarfilm ist, den Sie gemacht haben, aber eigentlich ist es auch kein Dokumentarfilm, es klemmt überall.

MB:
Die Schublade, in die er eventuell reingezwängt werden soll, die klemmt auf jeden Fall. Für mich ist es eine persönliche Erinnerung, auch eine persönliche Aufarbeitung, was z.B. die Bilder im Hof angeht, mit der Frau. Das waren Aufnahmen, die Anfang 1993 entstanden sind, aber diese Tortur durfte ich in meinem Hinterhof persönlich im Zeitraum 1991 bis 1993 über mich ergehen lassen. Es war eine Nachbarin von mir, die also offensichtlich Alkoholikerin war und über mir gewohnt hat. Die Episode ist auch quasi zum Abschluß gekommen. Jürgen lst Ende 1993 gestorben, ein halbes Jahr vorher ist diese Frau ausgezogen. Da hatte ich zwei Sachen, Film- und Fotomaterialien, die mich nicht losgelassen haben. Zu diesen Materialien mußte ich selbst erst mal Stellung beziehen. Mit Jürgen hatte ich soweit abgesprochen, daß, wenn er gestorben ist, was ja absehbar war und womit er auch ganz offen umgegangen ist, ich ihn filme, im Sarg. Dieses Bild, wie er tot daliegt, hat mich nicht losgelassen und diese Aufnahmen in dem Hof auch nicht. Das ist das, was ich eben meinte mit der Aufarbeitung von solchen Bildmaterialien, der Prozeß ist noch nicht abgeschlossen. Das ist heute die Welturaufführung, und daß ich diese keifende Frau, die mich persönlich betroffen hat, heute öffentlich mache, das ist noch ein Prozeß, der Film ist im Grunde noch nicht zu Ende und Sie können noch daran teilnehmen an diesem Prozeß.

Margit Voß:
Wann ist Ihnen denn die Idee gekommen, den Leierkastenmann dazwischen zu nehmen? Das ist eine dritte Dimension, die mir sehr gut gefällt, weil das andere so expressive Pole für mich sind und dazwischen kommt so etwas typisch Berlinerisches, der Hinterhof und dieser Leierkasten. Das ist ein verbindendes erzählerisches Element, daß diese Verbindung zwischen diesen beiden Extremen möglich macht.

Michael Brynntrap:
Konkret auf die Idee gekommen bin ich, als ich eines Tages zur Tür raus auf die Herrmannstraße ging, und da schob gerade dieser Leierkastenmann seinen Leierkasten durch die Gegend. Und da kam mir blitzartig die Idee. Ich hatte das damals, vor acht oder zehn Jahren, noch erlebt im Hinterhof. Dann habe ich ihn angesprochen und engagiert. Vielleicht habe ich hier auch schon zu früh erwähnt, daß diese Nachbarin real ist. Bei einigen Vorführungen im Bekanntenkreis ist mir z.B. die Frage begegnet, ob diese Frau echt ist oder gestellt, und die Geschichte mit dem Leierkastenmann war für mich auch die Überlegung, die Frage, was fiktiv ist und was gestellt, in den Köpfen der Betrachter hervorzurufen. In einer späteren Aufnahme stehe ich ja dann am Leierkasten und winke oben zum Fenster, und am Fenster stehe wiederum ich mit der Kamera. Das ist so ein brechendes und auch berechnendes Element, wo ich speziell diese Frage an den Zuschauer wende, ist es fiktiv oder nicht.

Barbara Frankenstein:
Ich habe noch eine Frage zu der Form der Inszenierung. Sie sagten eben, daß Sie über einen sehr langen Zeitraum immer wieder gedreht haben, sozusagen diese Situation zu Hause praktisch mit der Heimkamera, auch die Inszenierung, die wir ja auch als solche sehen. Gab es eine Verabredung, wie man darüber redet? Ich hatte den Eindruck, die Verabredung war die, es auf eine heitere Art und Weise zu machen, auf eine spielerische Art und Weise. Und zwischendurch trifft es mich dann auf einmal ganz hart, wenn er sagt: "Wenn ich aus der Dusche komme und in den Spiegel sehe, sehe ich meinen Körper." Er sagt es so ganz beiläufig. War das vorgesehen, oder hat sich das aus der Situation ergeben, aus der Art und Weise, wie Sie miteinander umgegangen sind?

MB:
Wir haben keine großartigen Verabredungen getroffen. Ich muß sagen, beim ersten Interview hatte ich meine Videokamera neu, und so war ich fasziniert, mal jemanden beim lockeren Kaffeeklatsch aufnehmen zu können. Aus so einer Situation ist das entstanden. Solche Gespräche hatte es aber schon öfter gegeben. Er hatte natürlich, den Film betreffend, eine gewisse Vorstellung gehabt. Er hat dann irgendwann mal gesagt: "Du machst das schon." Aber mir selbst war das jetzt überhaupt nicht klar, in was für einen Zusammenhang ich dieses Interview stelle usw. Das war wirklich ein Langzeitprojekt, das mich irgendwann gedrängt hat, es zu einem Punkt zu bringen.

Barbara Frankenstein:
Es ist also nicht ein paralleles Bedürfnis gewesen, so, wie er es beschreibt, daß er Fotografien macht von seinen Freunden, damit was bleibt? Bei Ihnen hat sich das erst hinterher dazu entwickelt, zu einer Erinnerung, zu einem Bild, was bleibt.

MB:
Ich würde schon sagen, das Material ist eher beiläufig entstanden und nicht mit Drehplan und Vorbereitung.

Michael Krull:
Wenn man dich hier reden hört und den Film nicht gesehen hat, dann denkt man, du hast einen wahnsinnig großen Film gemacht. Anfangs war ich sehr freundlich dem Werk gegenüber aber das, was du jetzt sagt, stimmt mit dem Werk nicht mehr überein. Ich möchte dazu mal sagen, warum lernt ihr nicht erst mal so eine Kamera zu bedienen, und dann fangt ihr irgendwann an, wenn ihr die Geräte bedienen könnt, darüber nachzudenken, was Film ist und dann irgendwann fangt ihr vielleicht an, euch Filmemacher zu nennen. Entschuldige, daß ich das so direkt sage, aber ich glaube, man muß es euch so sagen.

MB:
Die Frage ist, was ist Filmemachen. Die Sache ist ja die: Man kann naturlich Filmemachen immer lange vor sich her schieben, aber man kann auch z.B. eine Situation vorfinden, eine private persönliche... Auch in den Nachrichten sind 30% der Bilder nicht den Maßstäben eines Tontechnikers entsprechend. Aber wenn z.B. irgendwo ein Flugzeug abstürzt, und da ist zufällig jemand mit einer wackeligen Hi-8-Kamera dabei, dann wird das noch mal auf langsam gedreht, und das ist die Frage vom Umgang mit Bildern.

Ulrich Gregor:
Ich bin etwas überrascht, über die Aggressionen, die sich gegen diesen Film richten. Ich finde, das ist ein totales Mißverständnis. Für mich war dieser Film wunderschön. Ich finde, er hat eine große Leichtigkeit, er hat poetische Qualitäten, er ist aber gleichzeitig auch sehr gut aufgebaut und durchdacht, und daß man einen spielerischen Umgang mit der Technik des Kinos zuläßt, finde ich wunderbar. Wir sollten eigentlich dankbar sein, daß es Menschen gibt, die in der Lage sind, diesen spielerischen Umgang zu verwirklichen und nicht ein Handbuch studieren, sondern das Problem, ein Medium beherrschen zu lernen, sofort eingehen lassen in einen gewissen künstlerischen Prozeß, ohne abzuwarten. Ich finde, das ist eine sehr vielversprechende interessante Methode, die uns befreit von einer gewissen Einengung und Tyrannisierung durch Systeme und immer kompliziertere technische Abläufe.

(Diskussion zu »Aide Mémoire«, Moderation: Barbara Frankenstein, 3. Dokfilmwerkstatt Poel, 20.09.95 - Abschrift und Bearbeitung der Tonbandaufzeichnungen: Monika Berus, gedruckt in: Poeler Gespräche, Landesfilmzentrum Mecklenburg-Vorpommern 1996)

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Interview | interview
Anke Gebert, Interview zu »Aide Mémoire«, 3. Dokfilmwerkstatt Poel am 21.09.95,
veröffentlicht in: "Poeler Gespräche", Landesfilmzentrum M/V 1996
Radio - Interview | radio - interview
Knut Elstermann, Interview Auszug zu »Aide Mémoire«,
ORB 'FILMJOURNAL', Radio-Sendung vom 10.02.96


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