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MB
Ist sie jetzt an? Ja!
Ach so, das Datum kann man auch einblenden, hier, ganz toll.
Und zwar: date. Müßte jetzt eigentlich drin sein.
{Titeleinblende} 6. 12. 91
Und jetzt mach ich mal ... die Zeit.
{Titeleinblende} 16:53:17...
Gut. {phone} ... und telephone.


{Titel} Aide Mémoire

JB
Und was ich will, ist....
MB
Ja, was will er denn?
JB
Orchideen fressen, - den Hirsch mit den Händen fangen, - das Blut trinken und das Fett fressen. - In den ewigen Jagdgründen.
MB
So, jetzt such ich doch erst mal irgendwas Bescheuertes hier ... also ... {knack} eine Perspektive. - Apropos, Perspektive ... - Hattest du vielleicht vor dem Test oder so, - irgendwie utopische Vorstellungen? - ich mein, ich kenn' dich, ich weiß ...
JB
Utopische Vorstellungen? Was ich mal werden wollte?
MB
Ja, so - wo's langgeht.
JB
Was wollte ich mal ...
Ich wollte mal Popstar werden früher.
Ja, Popstar! {lachen}


{Titel} Der Fotograf Jürgen Baldiga

Frau
{Off} Du schwule Ratte!
Du, ich bring Dich um, Du Sau!

MB
... mal gucken.
JB
{zeigt Kondom} So nach zwei Jahren riechen die nicht mehr.
MB
Gar nicht mehr? Nix nach Gummi? Nach nix?
JB
Nö, - verdörrt, so ist es letztendlich.

Frau
{Off} Ich schlachte Dich ab, Du Sau!


{Titel} Der Filmemacher Michael Brynntrup

Frau
{Off} Du Arschficker!

Frau
Bintrup {hämisches Lachen} - Bintrup, huhu. Du kleine, alte Ratte.
Haste Pech gehabt, wa. Du kleiner Votzenheini. - Aufmachen brauch' ich denen auch nicht, wie Du. Du dreckige Ratte. Aber fertig mach' ich dich noch, das schwör' ich dir. Du, ich schwör Dir das.
Auf'm Friedhof wird deine Alte dich besuchen.
Du dreckige, alte, schwule Ratte.


{Titel} Ein schwules Gedächtnisprotokoll

MB
Ach, was ich noch fragen wollte. Äh, - erzähl mir doch mal deinen ersten Orgasmus.
JB
Mein erster Orgasmus. ehem.
Ja, das weiß ich noch. Das war in einem Baum.
Ich saß mit einem Schulkamerad, - öfters so nach der Schule, haben wir noch so gespielt oder so, - und der war eigentlich sehr potent und ... riesen Schwanz gehabt und war sexuell ein bißchen weiterentwickelt als ich - und einfach so die Onkel-Doktor-Spiele: zeig'mal, fühl mal, und so ... faßten wir uns gegenseitig in die Hose, haben sie dann letzendlich auch aufgemacht - und er hat mir eigentlich gezeigt, wie das geht, mit dem Wichsen.

MB
Hast Du das Gefühl, daß -irgendwie jetzt so- deine Sexualität gewonnen hat, oder oder?
JB
Ja die hat gewonnen!
MB
Ja, gewonnen?
JB
Die hat gewonnen, meine Sexualität.
MB
Schön.
JB
Im Moment auf jeden Fall, aber das kann vielleicht auch, ich weiß nich, wie du sagst so, so'n Ding - wenn ich halt spüre, daß ich - daß meine Hülle immer unbewohnbarer wird, daß mein Körper zerfällt - ich krieg das ja mit.
Jeden Morgen wenn ich dusche, komm halt aus dem Duschvorhang raus, mach den beiseite, dann hab' ich so'n riesen Spiegel vor mir und seh' mich. Zwar getönt, aber -letztendlich- seh ich mich, ...

JB
Im Moment, dadurch, weil - weil ich einfach so diese Vergänglichkeit sehe, und - deshalb fahre ich im Moment so auf diese Körperlichkeit ab. - Oder - auf Körper überhaupt.
Einen anderen Körper zu spüren,
haben wollen, Begierde, Gier.
Und weil ich es bei mir eben erlebe, das es verloren geht, daß es vergänglich ist.
Mir ist bewußt, daß ich sterbe. Jede Sekunde.

Frau
Du Dreckratte. Du, Dich mach' ich fertig.
Ich zermürbe Dich.

MB
Wie lange ist das her?
JB
{zeigt Kondom} Zwei Jahre.
Das ist so'ne kleine private Dose.
Da haben wir z.B. ...äh...
Das ist ein Grieneisen-Feuerzeug {zeigt} leer!
MB
Soll ich mal zoomen, - Ich kann ja mal zoomen, - zur Abwechslung.
So, jetzt wackelts hier wieder {zoom} - So. Ja, ein bißchen zurück, - gerade die Schärfe... So. - Ohgott. Ja, so ungefähr. - Ja, da ham wir's. - Ja, das erkennt man sehr gut. Ein Grieneisen-Feuerzeug. - Mit der Optionsnummer...
JB
{zeigt Zahn} Das ist ein Zahn. Wenn man das erkennen kann.
MB
Da geh' ich jetzt ganz nah ran. Sssst. Ja, das ist ein Zahn.
JB
Den hab ich im Wald gefunden.
MB
Ach so, ich dachte, das wär ein eigener. Schade.
JB
Nee, meinen eigenen hab ich hier. {zeigt} ...Karies, schlecht ausgebohrt.
MB
Jetzt geh ich an deinen Mund, wenn ich deinen eigenen Zahn filme. {zoom}.
Auch schön.
JB
{zeigt Zahnlücke} Ja. Hier.
MB
Ja, da fehlt er. Ja. Okay.
JB
Dann hab ich hier eine Hand.
MB
Ja.
JB
Die gehört eigentlich zu einer Fatima. Und wenn man einen Wunsch hat, macht man die Hand ab, versteckt die, daß man sie nicht sieht, ...

Frau
Du Penner, Du.
Du Lump, Du Dreckstück.
Du verrückte, asoziale Sau da oben.

Frau
Du altes Schwein. Du alte Sau. Du altes Dreckstück.

Frau
Du Ratte.
Du Schwein.
Du liegst auf dem Friedhof

Frau
Bintrup, Bintrup ....

Frau
{Off}... Du Sau. Dich mach ich tot.

{Pause}
JB
Soll ich Dir meinen letzten Orgasmus erzählen?
MB
Ja, bitte.
JB
Gestern, kniend im Schwimmbad, - unter der Dusche.
MB
Wo?
JB
In Neukölln, hier. In der großen.
MB
Gestern ... {lachen}

JB
{Off}... wenn ich genau weiß, der Typ hat 'ne Toxoplasmose, der hat 'nen Cytomegalin- Virus, irgenwie im Magen-Darm. Der hat 'nen Cytomegalin-Virus in den Augen, der wird blind, und so, ...

JB
... das ist meine Zukunft, was ich da vor mir seh', - weil: ich hab' Toxo-Erreger im Körper und ich werd' irgendwann meine Toxo kriegen, das steht so gut wie fest - Ich hab' CMV-Viren im Körper und ich werd' irgendwann mal CMV kriegen. Wo letztendlich die sich dann festsetzen, in den Augen oder im Magen Darm, ist eben noch nicht raus.
MB
Und dann denkst du so...
JB
und dann... ja... was hast du, hast doch keine Zukunft mehr, willste dir das überhaupt reinziehen, das ganze Elend, ...

Frau
{Off} Du alte Drecksau ...

Frau
Mensch, ich pfeif' druff.
Ich habe keine Angst, Du Arsch.
Du Drecksstück. Du wirst auf den Friedhof kommen.

Frau
Votzenheini.


{Titel} 08.06.1993

MB
Machen wir, ja?
Ja, läuft. Wir sind hier bei Jürgen Baldiga zuhause. So.

MB
... bei Jürgen Baldiga zuhause.

JB
Ja, ich bin Jürgen Baldiga...

JB
... Fotograph.

JB
... aidskrank.

JB
... ich bin 33 ...

JB
Bin eigentlich gelernter Koch ...

JB
... in Essen geboren ...

JB
... und seit acht Jahren, seit über acht Jahren, HIV-positiv. Seit drei Jahren im Vollbild ...

JB
Im Moment mache ich eigentlich nicht viel.
Im Moment hab ich viel mit meinem Körper zu tun.

JB
... lebe seit 1980 in Berlin und
will hier auch bleiben.

JB
... naja, in Essen, als die Leute da mitgekriegt haben, daß ich schwul bin, haben sie mir Müll vor die Tür geschüttet, und - blöde Drohbriefe gekriegt und so'n Scheiß. Und, da bin ich halt abgehauen.

JB
{Off} Berlin ist halt irgendwie... kann man als Schwuler ziemlich frei leben. Gerade auch so mit HIV.

JB
... positives Testergebnis, und dann ham' se Dir gesagt, naja, noch zwei Jahre. - Damals gab's ja noch keine Informationen in dem Bereich, - und dann habe ich mir überlegt, ich hab' eigentlich nur nachts gelebt und dann hab' ich mir, ja, jetzt mußt Du irgendwie - jetzt willst Du auch mal den Tag kennenlernen, und so mal irgendwie was machen so. - Weil, dieses Nightlife, das willst Du auf keinen Fall mehr, weil das kennst du, das hast Du jetzt jahrelang gemacht, - und da hab ich eigentlich nicht mehr so große Lust drauf und bin dann ...
Ja, hab 'ne Kamera geschenkt gekriegt, und hab mit der Kamera ja, hab den Tag wahrgenommen, - nachdem er mir irgendwie sehr fremd vorkam, kaum erlebt hab'.
Bin dann draußen rumgerannt und hab' so'n paar Leute photographiert. Erst mit 'nem riesen Teleobjektiv, und dann hab' ich das auch irgendwann weggeschmissen: Jetzt geh'ste mal näher 'ran und sprichst mit den Leuten, und so.
Ja, und die Photographie benutz ich ja auch immer und so, teilweise, ...

JB
{Off} ... um dieses Psychische zu verarbeiten, bei HIV, was da so abgeht.

JB
... wenn ich halt Freunde fotographiere, die aidskrank sind, dann ist es auch ganz wichtig, die auch so in ihrer Würde darzustellen noch, in ihrer Lebendigkeit und nicht nur da so die sensationshaschenden Bilder zu machen.

JB
{Off} Wenn Deine Zeit irgendwie begrenzt ist, dann überlegst Du Dir schon, was machst Du mit der Zeit, die Dir eigentlich zur Verfügung steht ...

JB
{Off} ... dann ist das auch immer so'ne Suche nach so'ner Ehrlichkeit. {Pause}
Man müßte viel viel realistischer ...

JB
{Off} ... die Fakten zeigen, wie's ist.

JB
{präpariert Injektion} Aber den Tod seh' ich ja letztendlich auch irgendwann auch als Erlösung eigentlich. - Weil nämlich: vorher erleidest du tierisch Schmerzen ... glaub schon, - das ist ...

MB
{Off} Hast du Schwierigkeiten mit dem Gedanken, daß du jetzt irgendwie Fotos machst von jemandem ... z.B. von Ikarus oder so, ...

MB
{Off} ... daß die ihn -sozusagen irgendwie- überleben, ne.
JB
{Off} Das ist ja das Ding, warum ich das eigentlich mache, oder so. - Ich will da irgendwie versuchen, die Leute auch für mich festzuhalten.

JB
Jetzt hab ich ihn fotographiert und dann - kann mir der Tod ihn nicht mehr nehmen. Weil: jetzt hab ich ihn, so für mich, in der Kamera.
Ich hab ihn getroffen, so wie ich ihn gesehen hab.
Aber das ist ein Irrglaube, so das ... Du verlierst den Menschen genauso.

JB
{Off} ... Medium Fotographie ist ja sowas Starres eigentlich - und da vielleicht aus diesem Zerfall irgendwie rauszukommen und ...

JB
... Irgendwas Unsterbliches auch zu schaffen oder so, was weiß ich, - was auch noch nach meinem Tode irgendwie Bestand hat - und das ist - das hat mich total motiviert, viel zu machen,
mindestens 'n paar Kratzer zu hinterlassen, nicht einfach so ...


{Titel} † 04.12.1993
{Titel} ... es verblüht nur.
{Titel} Aide Mémoire 1995