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biographische Artikel | biographic articles

Filme ohne Tabus - Bilder sind überall. Die wenigsten lassen sich an die Wand hängen, die meisten sind in unserem Kopf. Es sind Vorstellungen und Ideen - eben das Bild, das wir uns von der Welt machen. Die Forscher der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig (HBK) sind Spezialisten für jede Art von Bildern. Wir stellen sie vor.


Künstler, für die konventionelle Grenzen nicht existieren und die in ihren Werken Tabuthemen nicht mit schamrotem Gesicht am Rande andeuten, sondern unverblümt in den Vordergrund stellen, müssen sich oft als 'Spinner' oder 'Freaks' abstempeln lassen. Zu Unrecht, denn jeder Mensch macht sich Gedanken über heikle Themen - aber nicht jeder hat den Mut, diese Gedanken nach außen zu tragen. Michael Brynntrup schon. Piercingstechen in Nahaufnahme oder zahlreiche Gesichtsausdrücke von Männern beim Orgasmus - das steht nicht in vielen Drehbüchern.



Wo junge Filmemacher an ihre Grenzen gehen – und darüber hinaus
Michael Brynntrup leitet die Filmklasse der HBK – Hier werden persönliche Ideen zu bewegten Bildern
von Nina Wodicka


"Ich heiße Michael Brynntrup und bin am 7.2.1959 geboren worden. 1976 Herpes, im gleichen Jahr begann ich Tagebuch zu schreiben. Für die Pfarrkirche meiner Heimatgemeinde entwarf ich 1985 einen Hochaltar aus Schrott (bissige Kritiken in kirchlichen Printmedien, 2. Preis beim BMI-Wettbewerb ,Kunst am Bau’).

1986 Austritt aus der katholischen Kirche. 1987 Umzug in die Manteuffelstr. 12, 1000 Berlin-Kreuzberg. Von Mitte bis Ende Mai schwere Schaffenskrise. Vernichtung des gesamten filmischen Frühwerks, darunter sämtliches Rohmaterial zur episch-kritischen Filmtrilogie über die September-Unruhen. Ich liebe Kängeruhs und die Farbe Türkis. ,Die Statik der Eselsbrücken’ ist mein letzter Film."

Diese Zeilen stammen aus der von Professor Michael Brynntrup (50) verfassten Biografie aus dem Film "Die Statik der Eselsbrücken" von 1990. Er ist Künstler auf der ganzen Linie – von Performances, Installationen, Prosa, Malerei bis zu Filmen hat Brynntrup bislang viele Medien genutzt, um die Tiefen seiner Persönlichkeit zu erforschen und zum Ausdruck zu bringen.

Dabei entdeckt und erfindet er sich immer wieder neu – und lässt sich in keine Schublade einordnen. Mit seinen Werken will er den Zuschauer zur Reflektion anregen und zum Risiko verführen, Neues auszuprobieren. Ohne Grenzen. Ohne Tabus. Ohne Scheu.

In seinen Filmen thematisiert er gern sich selbst, wie in den "Eselsbrücken". Doch vorschnell urteilt, wer glaubt, die Biografie sei nichts als die pure Wahrheit. "Fact und Fiction: Ich habe nicht so sehr mich selbst beschrieben, sondern vielmehr die Muster einer klassischen Künstlerbiografie untersucht", erklärt Brynntrup.

Doch auf dieses Muster beschränkt sich der Filmemacher nicht. Alle von ihm behandelten Themen aufzuzählen grenzt an Unmöglichkeit. Zu umfassend ist die Bandbreite seines Schaffens, die an abstrakten Ideen kaum übertroffen werden kann.

17 Mal wurden seine Filme bei der Berlinale gezeigt, insgesamt gab es über 700 Festival-Vorführungen. Oft saß er in Jurys, auch im Ausland. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen pflastern seinen Lebenslauf.

Heute leitet der geborene Westfale die Filmklasse der HBK und führt seine Schüler an den Experimentalfilm heran. Die Klasse entstand 1972 auf Initiative von Gerhard Büttenbender, der sie bis zu seiner Emeritierung vor sechs Jahren leitete.

"Als eigenständiges künstlerisches Medium ist der Film erst relativ spät wahrgenommen worden. Die Filmklasse war damals eine absolute Ausnahme in der Hochschullandschaft", erläutert Brynntrup. Durch ihre Vorreiterrolle hat sie sich schnell einen Namen gemacht.

Regelmäßig gab es Besuch von berühmten Filmemachern. Sie nannten den Zusammenschluss der jungen Künstler anerkennend "Braunschweiger Schule" und trugen den guten Ruf ins Ausland. Dazu hat maßgeblich auch Birgit Hein beigetragen, die 1976 zum ersten Mal mit einem Lehrauftrag in die Klasse eingeladen wurde. 14 Jahre später übernahm sie die Leitung an der Seite Büttenbenders.

Von 1972 bis heute hat sich die Filmkunst verändert: Arbeitete man anfangs ausschließlich mit einer 16-Millimeter-Ausrüstung, hielt die Videotechnik bald Einzug in die Räume der Filmklasse. Doch auch weiterhin nutzen die Studenten die Schmalfilm-Formate, um ihre Ideen in bewegte Bilder zu verwandeln.

Auftragsarbeiten oder Spielfilme werden allerdings nicht umgesetzt. Vom Drehbuch über die Vorproduktion und den Dreh bis hin zur Nachproduktion entstehen die Werke der Schüler in Eigenverantwortung und nach ihren Vorstellungen.

Abstrakte Materialexperimente, bunte Musikvideos und inszenierte Filme, die im Internet gezeigt werden, sind die Ergebnisse der Arbeit.

Jeden Montag um 19 Uhr führt die Klasse in ihrem Studio Filme vor. Die Themen wechseln von Semester zu Semester. Im kommenden Winter werden Filme gezeigt unter dem Motto "Klassiker der Filmvideokunst".

"Ich betrachte den Experimentalfilm als Ausdruck der Persönlichkeit und rate den Studenten, bis an Ihre Grenzen zu gehen – und darüber hinaus", erklärt Brynntrup. Abseits von allen Konventionen gestalten die Schüler nach eigenem Ermessen Filme, die auch die versteckten Möglichkeiten des Mediums nutzen – oft entgegen den üblichen Erwartungen des Publikums.

Und genau das ist der Unterschied zwischen Experimentellem und Mainstream: Regisseure, die zusammen mit großen Produktionsfirmen einen Blockbuster für die Kinoleinwand drehen, wissen dabei meist haargenau, welche Szene welche Emotion beim Zuschauer auslösen wird, wenn der Film im Kasten ist.

Brynntrup sieht den Betrachter jedoch als Individuum, nicht als anonyme Masse. So möchte er, dass der Zuschauer intuitiv seine eigenen Gedanken zu dem Werk reflektiert. "Jeder einzelne im Publikum soll über sich selbst nachdenken und von seinen Gedanken überrascht werden, wenn er meinen Film sieht."

Das scheint vielen Menschen aber schwerzufallen. "Denn sie müssen sich auf das Thema einlassen wollen und heikle Inhalte nicht einfach von sich wegschieben." Und dass sich experimentelle Filmemacher auch Tabus widmen, ist Normalität. Kunst kennt schließlich keine Grenzen.

Braunschweiger Zeitung, Campus, 16.09.09 - Nina Wodicka

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