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biographische Artikel | biographic articles

Selbstportrait mit Totenkopf
Bemerkungen zu den Filmen von Michael Brynntrup
von Birgit Hein


Seit den Anfängen in den 20er Jahren sind die wichtigsten Werke des Experimentalfilms die perönlichen Filme, die 'Psychodramen' gewesen, die individuelle Gefühle und Gedanken gegen die zensierte offizielle Kultur vertreten und die immer neue Ausdrucksmittel entwickelt haben, um diese Inhalte zu vermitteln.

Michael Brynntrups Filme gehören in den Zusammenhang dieser Tradition. weil sie radikal persönlich sind und weil er mit ihnen eine neue Erzählform ausgebildet hat.

Das Filmemachen ist für ihn ein Prozeß der Suche nach der eigenen Identität, deshalb ist er selbst fast immer Darsteller und Inhalt seiner Filme, in denen er die Abbilder nach ihrem Verhältnis zur Realität untersucht.

In seinem Film »Handfest - freiwillige Selbstkontrolle«, 1984, sind es alte und neue Paßbilder, alte Filme und Fotos, Fotokopien und sein Spiegelbild, das er nach sich selbst abfragt. Diese Auseinandersetzung wird zugleich zu einer Reflexion über das Produzieren von Bildern; über das Filmen als Reproduktionsprozeß.

Er legt seinen Kopf auf die Scheibe des Kopiergerätes, unter der das Licht entlangfährt. Was für eine Kopie des Kopfes wird es liefern? Die Fotokopien der Hände, die Gipshand auf dem Handfoto, die bewegten Hände, die Hand mit den Ameisen aus »CHIEN ANDALOU« sind im Film alle gleich real. Er vergrößert die Fotokopie eines Paßbildes in mehreren Stufen und findet, daß die Pupille seines Auges wie ein Totenkopf aussieht. Das Herstellen von Bildern bedeutet eine neue Realität zu schaffen und nicht, eine vorhandene zu reproduzieren.

Der Film zeigt, was man eigentlich nicht sehen kann: Schuldgefühle, die zu Selbstmordabsichten führen, und die ungeheuren Ängste, die aus dem verbotenen Tun der Hände resultieren: das Trauma der Pubertät.

In »TABU I-IV«, 1988, geht es darum, das eigene Leben der letzten Jahre darzustellen. Er beginnt mit einem einschneidenden persönlichen Erlebnis, einer gefährlichen und schmerzhaften Operation. Die Texte aus dem Tagebuch werden durch ein kleines, nicht ganz scharfes Polaroidfoto ergänzt, das ihn mit weiss verbundenem Kopf im Bett zeigt. Es ist der Beweis dafür, daß das alles stattgefunden hat. Je weiter von da an die Tagebücher durchgeblättert werden, umso mehr lösen sich die Bilder vom Dokumentarischen. Sein Leben stellt sich nun dar in Ausschnitten aus den eigenen Filmen, in chronologischer Reihenfolge. Das heißt, er stellt sich indirekt dar, in einer verarbeiteten, neu konstruierten Realität. Das Private bleibt 'tabu'. Andererseits heißt es auch, daß sein Leben in seine Filme eingeht und daß das Wesentliche dort zu finden ist.

Die Eigenheiten seines Erzählstils sind hier voll entwickelt. Abbilder und Schriftbilder (abgefilmte Texte) haben bei ihm gleichberechtigte inhaltliche und ästhetische Funktion. Er wendet sich direkt an das Publikum. Er sieht in die Kamera, er spricht zu dem Zuschauer, er liest Texte aus dem Off oder er fügt schriftliche Mitteilungen ein, wie zum Beispiel "Erst nach meinem Tode veröffentlichen" (in »TESTAMENTO MEMORI«). Er läßt uns zusehen wie er seine Texte schreibt oder seine Zeichnungen zeichnet. Dadurch erhalten wir den Eindruck als würde der Film gerade entstehen, während er uns vorgeführt wird. Bilder und Texte fügen sich aneinander, wie Argumente einer direkten Rede, die an uns gerichtet ist. Der Prozeß des Machens ist dabei immer bewußt, auch wenn das Filmen selbst nicht sichtbar ist. Die Distanz um filmischen Geschehen wird auch durch die Unterschiedlichkeit von Bild und Text bewirkt, die wie zum Beispiel in »HÖLLENSIMULATION« nichts miteinander zu tun haben scheinen. Der Zuschauer muß unaufhörlich eigene Arbeit der Entschlüsselung der Information leisten.

Michael Brynntrup arbeitet nicht nur in einem, sondern in verschiedenen Stilen. Die Suche nach der eigenen Identität vollzieht er nicht nur über das eigene Abbild, sondern auch darin, die Rolle eines anderen zu spielen, wie in »JESUSFILM« oder in »ORPHEUS«. Dabei wird der Andere als Teil der eigenen Person sichtbar: im Spiegel sieht er nicht sich selbst, sondern dessen Gesicht.

In einigen Filmen ist der Totenkopf sein Partner und sein zweites Ich (wie in »MUSTERHAFT«, 1985/86, und in »TESTMENTO MEMORI«, 1986) mit dem er redet, spielt, den er küßt, mit dem er sogar geschlechtlich verkehrt.

Das Todesthema durchzieht seine Arbeit von den ersten Filmen an: der Tod als Ende im Anfang, bevor das Leben wirklich begonnen hat.

In »Der Rhein, ein deutsches Märchen«, 1983, geht es um den Onkel, den jüngeren Bruder des Vaters, der mit 18 Jahren in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges bei Kaub gefallen ist, in jener Gegend, in der die Familie die Sommerurlaube verbrachte. Michael Brynntrup überblendet die bunten Familienfilme seiner Kindheit mit schwarzweissen Dokumentaraufnahmen kämpfender Soldaten. Die Beschäftigung mit dem Tod schon in der Kindheit hat einen tieferen Anlass: Der eigene eineiige Zwillingsbruder ist bei der Geburt gestorben. Es gibt das tiefenpsychologische Schuldgefühl des Überlebenden, das auch bei ihm unbewußt die Todesfrage mitbestimmt.

In »Testamento Memori« wird das Geburt-Tod-Thema schon mit leichter Ironie dargestellt. Texte mit Musik zur Atemtechnik bei der Geburt begleiten sein Spiel mit dem Totenkopf, in dem die Mahnung an das Ende persifliert wird. In diesem Film kommt Brynntrups Begabung, ganz neue eigene Bilder zu schaffen, voll zum Ausdruck. Sein Gesicht, seine Hände, der Totenkopf und der 'chinesische' Vogel- käfig schweben im Raum wie silbrige Schatten auf goldenem Untergrund.

Diese Arbeitsweise der einheitlichen bildlichen Gestaltung greift er in den Episoden der »TOTENTÄNZE 1-8« wieder auf, in denen der Totenschädel unterschiedliche 'Partnerschaften' mit Männern und Frauen eingeht. Ich habe bisher nur einen der acht Filme gesehen. Ein poetischer Film, der in der Schönheit der Bilder an die rauschhaften Filme des 'New American Cinema' der frühen 60er Jahre erinnert.

Michael Brynntrups Filme kann man immer wieder ansehen und immer wieder neues an ihnen entdecken. Mit der visuellen und inhaltlichen Komplexität seiner Arbeit gehört er zu den wichtigsten neuen deutschen und europäischen Filmemachern.

(Birgit Hein, "Selbstportrait mit Totenkopf", veröffentlicht in: Journal Film, Nr.1/91, Freiburg, 1991)

(erstveröffentlicht: Birgit Hein, Self Portrait with skull, printed in: BERLIN - Images in Progress, Contemporary Berlin Filmmaking, Edited by Jürgen Brüning and Andreas Wildfang, Hallwalls / Buffalo, 1989)

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