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Interview | interview

Interview mit MB
von Steff Ulbrich am 4.3. und 12.3.1989


Steff Ulbrich:
354, die Zwölfte. Ja Michael, ich habe in den letzten Jahren in deinen Filmen zunehmend eine Aneignung des Totenkopfes beobachtet. Das fängt an mit einer Serie von Fotokopien eines Paßbildes von dir, bei denen durch eine wiederholte Vergrößerung schließlich ein Totenkopf in deinem Auge sichtar wird. Geht dann über »Testamento Memori«, wo du einen Totenkopf fickst, bis hin zu den »Totentänzen«, die schon in eine Art Manie ausgeartet sind, wo du den Totenkopf unter die Leute bringst. Für mich war die Interpretation: du predigst den Totenkopf.

MB:
Wie provozierend, aber du fängst wirklich hinten an.

Steff Ulbrich:
Das wollte ich auch.

MB:
Für mich ist Tod schon ein Thema, nie das einzige Thema, es ist schon ziemlich früh angelegt und zieht sich eigentlich durch alle Filme, aber es gibt auch andere Sachen, bei denen ich Wert darauf lege, daß sie in jedem Film vorkommen. Zum Beispiel das Motiv Hand habe ich auch mit Absicht in jedem Film drin, das symbolisiert etwas für mich.

Steff Ulbrich:
Ist der Totenkopf auch ein Symbol für dich?

MB:
Ein Symbol als Nicht-Symbol. Ein Symbol ist immer etwas ganz konkretes, ein rotes Kreuz zum Beispiel. Der Totenkopf steht z.B. für Gift, aber Hilfe! Ich sehe ihn nicht so einseitig als Nur-Symbol für eine mystische Weltanschauung, er ist für mich gerade deshalb interessant, weil er als Symbol von verschiedenen Seiten aufgeladen wird. Der Totenkopf ist, nebenbei gesagt z.B. ein beliebtes Requisit in Mal-Akademien, oder immer wieder ein Modezeichen, Leute haben sich den an Kettchen gehängt, in eigentlich allen Jugendmoden ist der Totenkopf immer stark vertreten, bei den Rockern, bei den Skins, bei den Punks. Das heißt für mich, das es ein Symbol für etwas ist, das man schlecht anders fassen kann. Eine Provokation, andererseits ein Anbeten oder Ranzitieren von einem Zustand, den man nicht weiter erklären kann: die Sache Tod, das geht jeden an, jeder bemüht sich, den Tod in den Griff zu bekomen, wenn es sein muß als Ohrclip, aber die Beschäftigung damit ist flächendeckend und übergreifend. Ich benutze den Totenkopf ja nicht mit einer eindeutigen Aussage, ich gebrauche ihn mehr als Stimmungsanreiz, ich spiele damit. Er hat eben die schöne Doppeldeutigkeit von total ernst und garnicht ernstzunehmend. Da wird auf jeden Fall eine Emotion angesprochen, aber auch ein Rationalismus im gleichen Motiv.

Steff Ulbrich:
Wie entwickelst du die Ideen zu den Totentanz-Filmen? Sind das Ideen, die du alleine hast, bei denen du von anderen verlangst: hier, mach' das so und so, oder denkst du dir das anhand von irgendwelchen Personen aus oder denkst du dir das mit den Darstellern aus? Ähnlich bist du beim »Jesusfilm« vorgegangen, du findest für dich ein Symbol Jesus! denkst dir selbst etwas dazu aus, bringst dich selbst als Darsteller ein, hast aber auch anderen Leuten wiederum die Möglichkeit gegeben, mit dieser Vorstellung zu arbeiten.

MB:
Grob gesagt kann man bei mir unterscheiden zwischen kleinen Bastelarbeiten, die mehr aus aktuellen Situationen entstehen und die ich spontan aufgreife. Dazu würde ich z.B. »Handfest« zählen, das ist ein Film, bei dem hat sich das Material angesammelt, war archiviert. Natürlich, wenn man spontan die Kamera zur Hand nimmt und alles filmt, was man wichtig oder interressant findet, stellt sich nach drei Jahren vielleicht ein Zusammenhang her zwischen einzelnen Motiven, die einen besonders interessiert haben. Dann paßt das eigentlich sehr gut, dann ist das ein in sich stimmiger Film. »TABU I-IV« ist ein ähnliches Beispiel.

Es gibt aber auch Sachen, die ich mehr konzeptionell angehe, vor allem episodenhafte Dinge, bruchstückhaft. Fragmentarisch vorzugehen ist, denke ich, für Super-8 sowieso angesagt, nicht dieses Drehbuchschreiben, drei Jahre einen Film vorbereiten und dann in 14 Tagen abdrehen. Man sammelt halt mit seiner handlichen Kamera sein Material zusammen, oder man geht eben einen Tag in die Welt hinaus und filmt, was man sich kurz vorher überlegt hat, konzipiert hat. Dann skizziert man eine kleine Geschichte, eine Episode, das kommt der Super-Acht entgegen.

Bei solchen Episodenfilmen wie der »JESUS« oder jetzt die »Totentänze« guck ich mir natürlich vorher die Leute an und laß mich auch von ihnen inspirieren. Ichgola z. B. (in: »Der Hieronymus, Totentanz 6«) kenne ich von der Bühne, von ihren Auftritten als Tunte, und dann kenne ich sie auch privat ganz gut und merke, sie hat ähnliche Dinge im Kopf, ähnlich groteske, verdrehte Sachen wie ich auch und witzig dabei auch und. - Also wir hatten uns überlegt, einen dreckigen, kleinen Film zu machen, einen Totentanz mit viel Fleisch und blutig und ein skurriler Mensch sollte das sammeln. Ich war natürlich noch vorher am Schlachthof und habe mir Schweineaugen geholt und noch ein paar Schlunde, aber der eigentliche Film passierte dann ziemlich plötzlich, wie das gute Wetter. Wir haben uns bei Ichgola getroffen, sie hat eine echte Wunderkammer, ein Kuriositätenkabinett als Wohnung, wir haben diese und jene Gegenstände zurechtgelegt, die Maske gemacht und wußten noch garnicht wo wir drehen. Stadtplan aufgeschlagen, mit einer Mauer drumherum ist das natürlich auch sehr begrenzt, interessante Drehorte zu finden, vor allem wenn das Thema 'Natur' ist. Also haben wir uns die kleinen, blauen Flecken auf dem Plan rausgesucht, kleine Tümpel und sowas. Jedenfalls haben wir zielstrebig einen blauen Fleck angesteuert, allerdings nicht gefunden, weil es wohl nur ein Druckfehler war auf der Karte, dann haben wir uns ein bißchen durchgefragt und zwischen Häusern, enger Bebauung einen Tümpel gefunden, der wiederum nicht auf der Stadtkarte verzeichnet war und dort haben wir die Sache gedreht und wenn man sich das anguckt, wirkt es wie in völliger Einsamkeit, ein Moorgebiet, endlos Natur bis zum Horizont, aber es war so, daß man mit geschicktem Blickwinkel alle Strommasten und Leitungen ausblenden mußte. So ist der Totentanz mit Ichgola entstanden. Die Geschichte hat sich mehr oder weniger vor Ort entwickelt. So ähnlich auch die anderen Totentänze. Ort, Handlung und Zeit, das ist eine Situation, ein Einblick, der noch Phantasie zuläßt: was ist denn das überhaupt, was macht der denn da, wo lebt der,- das ist nicht Geschichtenerzählen im Sinne von Einführung, Personen vorstellen, dann trifft er noch wen, dann haben sie zusammen einen Auftrag zu erfüllen oder was weiß ich, also da gibt es bei mir keine Erzählung.

Steff Ulbrich:
Du bist ja nicht nur Filmemacher, sondern machst auch Copyart und hast Kunstgeschichte studiert. Wie ist denn der Zusammenhang zwischen den Totentänzen und den mittelalterlichen »Totentänzen« herzustellen?

MB:
Wie die Super-8-Kamera hier zur Hand liegt, liegen natürlich auch die vorgefertigten Geschichten wie »Jesus« und »Orpheus« oder schon bekannte Filme wie »Un Chien Andalou«, siehe »Handfest« zur Hand. Es ist soviel schon da, man kann sich da einfach mit Genuß reinstürzen und bei einem ikonografischen Topos wie den Totentänzen weiß eigentlich letztlich jeder worum es geht: König, Bauer, Bettelmann, jedem wurde der persönliche Tod beigesellt, das ist deswegen für mich interessant, weil es erst in einem erwachenden Individual-Bewußtsein entstehen konnte. Vorher gab es nicht den individuellen Tod, nur Standeszünfte waren überhaupt darstellenswert, jetzt erst traten überhaupt Einzelschicksale ins Bewußtsein. Die Menschen haben da erst angefangen, sich selbst zu erkennen. Das ist auch ein Schwerpunkt meiner Arbeit, dieses selbstreflexive Moment, daß man über sich selbst nachdenkt, nicht nur über sich selbst als Person, sondern auch womit man sich befaßt. So sehe ich auch den Experimentalfilm als eine Art Meta-film, jeder Experimentalfilm, auch die Totentänze, machen auch eine Aussage über Film als Medium. Insofern ist da der Totenkopf ein Platzhalter für Individual-Bewußtsein und Selbstreflexivität.

Steff Ulbrich:
Sind die Totentänze mehr Bastel- oder Konzeptfilme?

MB:
Konzept insofern, als sie in einem Zyklus stehen und insofern, daß man sich von vornherein auf konkrete Situationen begrenzt, als Film versuche ich allerdings etwas anderes als eine geistreiche, witzige, konzeptionelle Sache daraus zu machen, ich versuche mehr emotional zu arbeiten.

Steff Ulbrich:
Der »Stummfilm für Gehörlose« ist für dich auch konzipiert?

MB:
Ja, vom rein Filmisch-Bildlichen bietet das nicht die totale lllusion, es ist ein Lehr- und Übungsfilm, es ist ein Zeigefingerfilm, wo ich den Zeigefinger erhebe...

Steff Ulbrich:
...aber wehe, wenn ich auf das Ende sehe...

MB:
Das ist »Testamento Memori«, das geht schon ineinander über, die Bereiche. Der Titel Stummfilm für Gehörlose weist auch auf den Film hin, daß Film z.B. auch Ton ist.

Steff Ulbrich:
Du hast viele Super-8-Filme gemacht, jetzt machst Du auch 16mm-Filme. Was ist Super-8 für dich?

MB:
Super-8 möchte ich mir auf jeden Fall erhalten als spontanes Ausdrucksmedium, man kann ganz wunderbar über längere Zeit sammeln und ist nicht an normale Produktionsbedingungen gefesselt. Es ist ein sehr persönliches Medium, man kann sich als Person sehr viel stärker einbringen als in Filmen mit Riesenetat und Arbeitsteilung. Ich merke gerade bei den Totentänzen, die auch auf Super-8 sind, die möchte ich aufblasen, da gibt es Qualitätskriterien, Bildqualität, Tonqualität...

Steff Ulbrich:
...die wird doch nicht besser durch's Aufblasen...

MB:
...die Bildqualität nicht unbedingt, aber auf jeden Fall die Tonqualität, es läßt sich einfach sauberer arbeiten, Schnittstellen und so, das sind für mich Gründe, mit 16mm zu arbeiten. Abgesehen davon ist der Vertrieb dann kommerzialisierbarer, man kann halt von Super-8 nicht leben und von Film will ich leben.

Steff Ulbrich:
Du gehst ganz explizit vom 'Deutschen', oder sagen wir besser Mitteleuropäischen aus in Deinen Filmen. Gibt es für dich auch heute noch eine kulturelle Identität einzelner Völker?

MB:
Ja klar. Wir sind so stark beeinflußt von Geschichte, daß es auch unmittelbare Auswirkungen auf die Gegenwart hat. Wenn man sich damit nicht befaßt, wenn man diese abendländische Kultur verleugnet, begibt man sich völlig in ein Vakuum.

Steff Ulbrich:
Kann man sich das denn heute noch leisten, z.B. auf seine deutsche Vergangenheit zu pochen?

MB:
Ja, in »Todesstreifen - ein deutscher Film« habe ich z.B. etwas zur Mauer gesagt, und im »Der Rhein - ein deutsches Märchen« habe ich nicht etwas zum Nationalsozialismus, sondern zum Wirtschaftswunder-Deutschland gesagt, also zu der Zeit, die uns geprägt hat, in der wir groß geworden sind, das gehört für mich zur Person und zum Jetzt. Ich kann mir nicht vorstellen ein Thema der deutschen Geschichte aufzuarbeiten, nicht mal die Verfolgung der Homosexuellen im dritten Reich womöglich in dokumentarischer Spielfilmform. Dazu meine Meinung darzubringen, halte ich für vollkommen überflüssig und fühle mich auch garnicht kompetent genug dazu. Es gibt andere Sachen, die viel konkreter und mir viel näher sind. Heute gibt es auch noch Homosexuellenverfolgung und ich finde es sehr wichtig, wenn man das persönlich erfahren hat, daß man darüber dann mit seinen Mitteln berichtet; daß man sich selbst als Beispiel nimmt.

Steff Ulbrich:
Ich meine das nicht abwertend, aber über irgendwelche Attitüden hinaus beschäfigst du dich in deinen Filmen aber sehr wenig mit Homosexualität.

MB:
Ja, ich sehe daß auch als Selbstverständlichkeit an, aber ich glaube schon, daß es deutlich wird, daß die Filme von einem schwulen Filmemacher gemacht worden sind. Ich habe bislang eben keinen plakativ-homosexuellen Film gemacht. Was ist überhaupt ein homosexueller Film? Herkömmlich erzählt und nur mit einer schwulen Story drin. Ich denke, daß es eine schwule Identität gibt und somit eine schwule Kultur, eine schwule Äthethik.

Steff Ulbrich:
Was ist denn eine schwule Ästhetik für dich?

MB:
Oder sagen wir mal konkret, was in meinen Filmen in diese Richtung passiert. Homosexualität steht nie ganz ausdrücklich im Vordergrund, wie aber auch in jedem meiner Filme nie nur eine Sache thematisch ist es kommen immer viele Sachen da rein. Und das macht dann vielleicht auch aus, weshalb die Filme in den Programmen so gut zusammen passen. Also, wenn ich einen Film mache, denke ich auch daran, daß da gewisse schwule Momente drin sind. Z.B. in dem »Stummfilm für Gehörlose« taucht als eine der Tafeln, wo diese Taubstummengesten vorgestellt werden, mehr oder weniger aus heiterem Himmel eben die Geste für Homosexualität auf. So kann es auf der einen Ebene sein, im »Tabufilm« ist es natürlich wesentlich persönlicher, also da rede ich ja ziemlich viel über mein eigenes Coming Out, und z.B. in diesen »Totentänzen«, die ich eigentlich für recht schwul halte, gerade im Zeichen von AIDS... allerdings war mir z.B. bei diesem »Totentanz 3« mit Antoine (Strip-Pickles) von vornherein garnicht klar, erst als einige Leute das vermutet haben, daß es eigentlich ein schwuler Liebesfilm ist, auch wenn da mit einem Totenkopf hantiert wird.

Steff Ulbrich:
Die Frage war jetzt mehr nach schwuler Ästhetik und nicht nach schwulen Inhalten.

MB:
Form und Inhalt müssen sich bedingen, beide müssen in einem sinn-vollen Zusammenhang stehen, sinn-voll heißt für mich: die Sinne ansprechen, wie auch sinnig den Kopf ansprechen. Schwule Ästhetik greift wohl eher bei den Totentänzen, ich kann mich da schwer ausdrücken, beschreibe mal so ein Bild aus den Totentänzen, das macht auf einer anderen Ebene Wirkung als irgendwie so ein gesprochenes, geschriebenes Wort 'Homosexualität'. Der »Orpheus«-film ist für mich auch noch ein relativ schwuler Film. Der schwule Blick, Orpheus dringt in die Unterwelt, ins Totenreich vor und will seine Geliebte da rausholen, was ihm halt nicht gelingt, die Frau bleibt ihm unerreicht und er widmet sich fürderhin der Kunst. Überhaupt Barock, die Lust am Kostümieren.

Steff Ulbrich:
Das ist für mich aber auch nichts 'Homosexuelles', es macht jedem Spaß, sich zu verkleiden...

MB:
...Nicht unbedingt, ein Mann darf sich keine Perücke aufsetzen, auch ein Biick in den Spiegel, oder das Körperbewußtsein...

Steff Ulbrich:
...auch das ist für mich nur etwas allgemein Menschliches und nichts speziell Homosexuelles...

MB:
...nee, z.B. ein normal-Sterblcher-Hetero-Mensch, der ist nicht aufgefordert worden durch Rollenzwänge oder so, zu seinem Körper, zu seinem Ich, zu seiner sexuellen Identität Stellung zu beziehen wie halt ein Schwuler.

Steff Ulbrich:
Homosexuelle Ästhetik ist gegessen, gibt es nicht!

MB:
Das würde ich nicht so sagen!

Steff Ulbrich:
Was wolltest du denn in den Tabufilmen erreichen?

MB:
Also die Aussage im »Tabufilm« ist nicht: was hat Michael Brynntrup am 12 .Mai 1983 gemacht, sondern was ist Tagebuch, wo sind da Tabus, was ist durch das Medium Tagebuch schon vorgegeben? Was sind überhaupt die Bedingungen, ein Tagebuch zu schreiben, z.B. die Eigengesetzlichkeiten des Mediums. Und dann noch die Ebene, wenn man da jetzt einen Film macht, was ist das jetzt? Eine klare inhaltliche Aussage ist z.B., daß Zeit, je näher sie am aktuellen Zeitpunkt, am Jetzt dranliegt, auch umso chaotischer noch ist. Erst im Rückblick, meinetwegen auf die Geschichte, wird es irgendwie klar, im Rückblick legt man der Geschichte irgendwelche Ismen über. So war das beim »Tabu I-IV« auch, also diese vier Tagebücher, das war der vorgegebene Rahmen, die viergeteilte Form. Die Übergänge und Themen sind fließend durch alle Tagebücher durch, wie auch durch alle Filme sich immer die gleichen Fäden ziehen mit anderen Schwerpunkten. Der Tabufilm ist das Bekenntnis, dieses chronologische Chaos auch formal zu greifen. Und darum habe ich das erste Tagebuch im Nachhinein unter diesen Gesichtspunkt gestellt, die Operation. Das zweite habe ich konkret unter ein anderes Thema gestellt, allgemeine Konfusion und Coming-Out. Im dritten Tagebuch wird ganz klar, daß der Tabufilm ein Film ist, eben filmisch, da sind die einzelnen Tagebuchseiten animiert, da bewegt sich was im Tagebuch selbst und das vierte Tagebuch führt an den Anfang des Films zurück, wo ich ins vierte Tagebuch reinschreibe, eine konkrete Situation ist da storyboardmäßig aufgezeichnet, da geht es um das Hier und Jetzt mit dem langen Ende. Also das ist alles ziemlich komplex und in sich verschlungen, aber die Aussage finde ich als Aussage schon mal sehr wichtig, daß man eben versucht, sein Leben zu formen und dabei auch merkt, daß das immer eine Reduzierung, eine Illusion ist.

Sein Leben gestaltet man nicht durch's Tagebuch und wie es dann dort geschrieben steht: so war dann mein Leben, sondern wenn man ein Tagebuch hat, gestaltet man das Tagebuch und damit sein Leben auch immer wieder aktuell und neu, indem man nachliest und unterschiedliche Schwerpunkte feststellt und dann plötzlich sagt: ach, in der Zeit war ich soundso drauf, wie gut, daß das vorbei ist. Aber gleichzeitig bemerkt man, daß so eine Phase auch noch ein Stück von einem heute ist, und so bleibt die Vergangenheit lebendig in dem Sinne, daß man sie nicht ad acta legt, sondern sie weiterhin gestaltet, und das relativiert dann das Denken vom A und 0, und der inneren Notwendikeit und Schicksalhaftigkeit allen Handelns. Das soll jetzt kein Aufruf zum bewußten Atmen sein, aber das war in etwa mein Themenkreis im Tabufilm.

Steff Ulbrich:
Wo bleibt das Provoative, wenn man versucht ein Tabu als Tabu darzustellen? Was ich erwartet habe war, daß du die Tabus in dir selber zwar nicht löst, aber ansprichst.

MB:
Also Steff, dann nenne du mir doch deine Tabus mal, die aktuellen, hier und heute! Z.B. meine Homosexualität, das war früher tabu, das ist heute nicht mehr tabu, das habe ich im Tabufilm schon deutlich gemacht.

Steff Ulbrich:
Du hast dein Tagebuch bei der Premierenparty als Gästebuch angeboten, aber keiner wollte reinschreiben.

MB:
Privatheit ist eines der letzten Tabus, damit wollte ich die Leute konfrontieren, als ich sie aufforderte, in mein Tagebuch zu schreiben. Denn letztendlich sind Tabus immer selbstgesetzt, ihnen sollte klarwerden, wie weit sie gehen wollen, ob sie die Privatsphäre akzeptieren oder im Tagebuch rumblättern oder etwas schreiben. Dieses Spiel vor einem Spiegel aufgebaut. Die Arbeiten, die ich mache sind alle nicht eingängig und nur sympathlsch, wenn Leute meine Filme angucken, werden sie auch immer mit sich selbst konfrontiert, durch z.B. ein langes Ende, daß sie merken, der Film ist noch nicht vorbei und ich sitze auf einem harten Stuhl und mein Arsch tut mir weh. Ich ziehe sie aus der Illusion, die jeder Film aufbaut, und der Faszination. Ich versuche daran zu arbeiten, die Leute auf sich selbst zurückzuwerfen. Ich biete keine Identifikationsfiguren an, die Leute können sich nur noch mit sich selbst identifizieren. Letztlich geht s immer um das Publikum als persönliches Individuum, das sich mit sich selbst beschäftigen muß.

Steff Ulbrich:
Du würdest deinem Publikum empfehlen, sich besser mit sich selbst als mit deinen Filmen auseinanderzusetzen?

MB:
Nein. Nur denke ich mir, wenn meine Filme einen wirklich positiven Effekt haben, dann den, daß die Leute sich ganz bewußt mit sich selbst auseinandersetzen.

Steff Ulbrich:
Du machst also keine Unterhaltungsfilme?

MB:
Also ich will nicht so Filme machen, die so glatt reingehen und irgendwie glatt vergessen werden, sondern die Mitarbeit erfordern.

Steff Ulbrich:
Darum auch die verschlüsselten, manchmal rätselhaften Symbole?

MB:
Es ist einfach schön, mit Symbolen zu arbeiten. Sie sind schon lange da und bedeuten etwas Bestimmtes, sind aber auch offen für vieles. Symbole sind für meine Sache sehr schön geeignet, weil man damit formal sehr geschlossen arbeiten kann, und weil die andererseits sehr offen und unbesetzt sind, und jeder, der dann den Film sieht, kann sich etwas anderes dabei denken. Es gibt ja noch viele andere Symbole mehr, und viele andere Leute benutzen ihre besonderen Symbole. Warum jetzt z.B. die Hand konkret: das kann persönliche Gründe haben, das hat auch wahrscheinlich damit zu tun, da mir meine Hand, so als Körperteil als erstes bewußt -in dem Sinne- geworden ist. So in der Pubertät, auch vermittelt über andere Leute, daß mich jemand mal auf meine schöne Hand aufmerksam gemacht hat, ein Freund, den ich auch sexuell verehrte. Das ist ein subjetives Erlebnis, das ist mir hängengeblieben. Und dann ist die Hand ja auch einfach vor-handen. Hand ist ja auch ein Medium, etwas Geistiges, weil man sich mit der Hand ja über Schreiben und Schrift z.B. sehr persönlich ausdrückt, auch Zeichensprache z.B. oder auch Hand-Lesen. Die Hand ist wahrscheinlich nur ein Mikrokosmos für den ganzen Körper, für das ganze Leben, für die ganze Welt.

Steff Ulbrich:
Aber du kannst mir nicht erzählen, daß irgendein Freund dich auf deinen ganz besonders hübschen Totenkopf aufmerksam gemacht hat.

MB:
Als ich noch keine Filme gemacht habe, hab ich auch schon immer gerne Totenköpfe gemalt, - das hat auch etwas mit diesem erwachenden Individual-Bewußtsein zu tun, was mich im übrigen auch schon immer als soziohistorisches Phänomen interessiert hat, darum auch meineVorliebe für Manierismus, weil das genau die Zeit ist, wo das Individuum erwacht, um es kurz zu machen. Bei mir ist es dann die pubertäre Phase gewesen, wo bei mir persönlich selbstverständlich sehr viel passiert ist. Und so wie ich in der Zeit mit meiner Hand konfrontiert worden bin und die so als mein Ich, als Spiegel meines Ichs kennengelernt habe, so hab ich mich zu der Zeit natürlich auch gefragt "Wo führt das alles hin" und in der Phase fängt man dann auch an, über den Tod nachzudenken. Ich bin persönlich nie mit dem Tod eines mir nahestehenden Menschen konfrontiert worden, und das war dann der Auslöser oder so etwas, sondern eher über eine philosophisch-theoretische Überlegung. Es gibt viele Leute / Künstler, die beziehen sich in ihrem ganzen Tun, auch wenn sie 60 sind, auf ihre Kindheit, weil da die entscheidenden Klingelzeichen gegeben worden sind, und so ähnlich wird sich das bei mir wohl auch verhalten.

Steff Ulbrich:
Du bist eben auf deine Pubertät zu sprechen gekommen, die ja offensichtlich eine ehr entscheidende Phase in deinem Leben war...

MB:
...In wessen Leben nicht?...

Steff Ulbrich:
...In einer Filmkritik über den Jesusfilm hieß es, der Film sei pubertär...

MB:
...Das schrieb übrigens das Uni-Journal, alles diese Hirnwichser aus dem philosophischen Seminar, ist klar, das die das dann gerne schreiben...

Steff Ulbrich:
...Ist denn das dann überhaupt eine Abwertung für dich, 'pubertär', oder kannst du dem nicht eher etwas abgewinnen?

MB:
So Vokabeln wie 'albern' oder 'peinlich' oder 'pubertär' sind für mich nicht negativ besetzt, die haben für mich auch gerade den Reiz, sich damit zu befassen, weil sie total auf der Kippe stehen, auch privat, diese Begriffe muß man sich positiv aneignen. Man darf den Prozess der Kommunikation und Diskussion solcher Begriffe auch nicht abbrechen lassen, solche Begriffe sind halt auch immer im Wandel begriffen.

Steff Ulbrich:
Du hast eben schon kurz auf den Manierismus angespielt.

MB:
Den Manierismus halte ich für die interressanteste Kunstepoche überhaupt. Interressant daran ist für mich die Abkehr vom Formalismus, vom Akademismus, die Abkehr von Weltanschauungen, die der Natur und der Wahrnehmung Gesetze überstülpen wollen. Z.B. ganz bildlich: die Zentralperspektive, dieser Zentralismus, der wird plötzlich ad absurdum geführt. Interessant ist, daß der Manierismus sich eigentlich definiert über das, was er ablehnt, also zunächst mal negativ. Aber was am Manierismus positiv zu Ausdruck kommt, ist eben der Bllck auf die Vielseitigkeit eines Menschen oder auf die Komplexität der Welt, was bei der Zentralperspektive eben ausgeblendet ist, alles hat seinen Platz unter diesem Gitternetz. Beim Manierismus werden die Proportionen frei gewichtet, und da kommt viel stärker der freie Geist zum Ausdruck, die Phantasie.

Steff Ulbrich:
Wo kommt denn in deinen Filmen die Phantasie zum tragen?

MB:
Vor allem, so hoffe ich doch, in den Köpfen der Zuschauer. - In meinen Filmen, naja, wohl im Spielerischen, auch Wortspiele, freie Assoziationen. Ganz deutlich wird das vielleicht beim Schnitt, wo ich gerne Sachen aneinanderknalle, die erstmal nix miteinander zu tun haben.

Steff Ulbrich:
Interressant wird es in deinen FiImen aber besonders dann, wenn sie sehr geschlossen wirken.

MB:
Mir kommt es immer darauf an, die Sachen auch zu brechen. Eine Kurve, die ich aufbaue, auch wieder kippen zu lassen. Bei den Totentänzen, die wohl am ehesten geschlossen wirken, sehe ich das eigentlich auch so, nur daß es hier nicht durch einen Schnitt kippt, also nicht durch so einen konkreten, präzisen Gedankenblitz sich ins Gegenteil verkehrt, sondern da versuche ich den Film eher emotional durch eine elegante Hirnwindung zum Drehen und zum Kippen zu bringen. Ein gutes Beispiel ist der »Totentanz 3«, der funktioniert ja so, daß zwei Bilder übereinander geblendet sind und bei dem einen passiert die Handlung, die emotional mitvollzogen wird, und im zweiten kreisen diese Totenköpfe, und kreisen, und kreisen, und kreisen - und das ist doch eigentlich lustig.

Oder bei dem Ichgola-»Totentanz« passiert einfach so etwas unverschämt-skurriles, daß man der Handlung wohl mit Interesse folgt, aber wenn dann der Film vorbei ist, man nur noch den Kopf schüttelt und sich wundert, was war denn jetzt, was war denn das überhaupt, das hat mich zwar angesprochen, aber mit meinem Kopf, mit meinem perspektivischen Denken, mit meinem Netz- und Schubladensystem, mit dem komm ich hier jetzt nicht weiter. Wenn dem Zuschauer dann die Geschichte rückblickend als banaler Müll vorkommt, und er sich diese Banalität als solche vergegenwärtigt, dann ist der Film eigentlich auch ein Witz, ist das schräg!, das ist dann eigenlich auch schon genug.

Steff Ulbrich:
Du findest es wichtig, witzig zu sein und schräg, und das ist dann auch genug.

MB:
Nee, da die Leute auf einem ganz komplizierten Weg hinzuführen, auf einem Weg, den die erst im Nachhinein begreifen, auf einem faszinierenden Weg zu diesem Erkenntnisstand. Also ich will hier jetzt nicht eine Aussage treffen, wo mit Argumenten irgendwie geantwortet werden kann, und was dann erst noch ausdiskutiert werden muß, und wo dann noch ein gemeinsamer Entschluß gefaßt wird. Alles nicht das, was eigentlich die Stabilität des ganzen Systems ausmacht. Sondern einfach auf einen Bereich im Menschen, in jeder Subjektivität hinweisen, wo eben andere Dinge zählen als Worte.

Steff Ulbrich:
Dankeschön,...

MB:
...bitteschön.

(Steff Ulbrich, Interview mit Michael Brynntrup, translated and printed in:
BERLIN - Images in Progress, Contemporary Berlin Filmmaking,
Edited by Jürgen Brüning and Andreas Wildfang, Hallwalls / Buffalo, 1989)

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Interview | interview
Steff Ulbrich, "Death, Obsession + Cinema (part two)", interview with MB, March 1989, printed in: Independent Eye, N°11, Toronto, Spring 1990



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