monografischer Artikel | monographic review

"TABU / KONTINUUM"
(Katalog Text)
von Anne-Kathrin Auel


Seine Tagebücher hält Michael Brynntrup nicht verschlossen. Die seit 1979 beschriebenen Seiten macht er auf drei medialen Ebenen zugänglich: Eine Auswahl der Tagebuchseiten, insgesamt 78 Blatt, präsentiert der Künstler gerahmt und hinter Glas. Dieser Block hängt gegenüber einer DVD-Projektion, die im Loop die Super8 und 16mm-Verfilmungen der ersten Tagebücher zeigt. Dazwischen ermöglicht ein Pult den Online-Zugang zum Projekt „tabu2000.net“. Brynntrup bietet dort seine Aufzeichnungen zum Kauf an und versichert, dass der Käufer die einzige Kopie der gewählten Doppelseite erhält. Mit der Limitierung folgt er den Gesetzen des Kunstmarktes und zeigt zugleich die Absurditäten, die dem System innewohnen, da das „persönliche Original“ eine Reproduktion ist. Auf intelligente Weise egalisiert der Künstler Wertschöpfung, da er die erworbenen Faksimile online freischaltet und dadurch für jedermann zugänglich macht. Dann meint kaufen nicht, etwas der Öffentlichkeit zu entziehen, sondern es ihr zur Verfügung zu stellen.

„Tabu“ fungiert als Abkürzung, zugleich ist es ein virtueller Stempel, der das Projekt definiert und neugierig macht, weil es die Intimsphäre eines Anderen betrifft. Als Leser und Betrachter fällt es leicht, sich zu vertiefen, weil Brynntrup so schreibt, als würde er nur für sich schreiben, als ginge es nie darum, etwas publik zu machen, obgleich sich die Absicht des Publizierens schnell entwickelte. In Brynntrups Tagebuch steckt so viel Wahrheit, dass es keine Rolle spielt, ob sich einzelne Details aufgrund der künstlerischen Absicht der Aufzeichnungen anders darstellten als sie es innerhalb der Situation taten. Fragt man andere, ist die persönliche Wahrnehmung immer verschieden von dem, was passiert. Erinnerung erst recht.

Der Sprache widmet Michael Brynntrup liebevoll seine Aufmerksamkeit und legt subtil den ihr eigenen Witz offen. Als er über ein Essen mit Freunden schreibt und von einem zeitgleichen Ereignis berichten will, lässt er den Satz mit „Währenddessen“ beginnen, gefolgt von der in Klammern wiedergegebenen spielerischen Ergänzung „während Essen“. Einen Mann zu sehen, wie er einen Totenkopf fickt, ist ungewöhnlich, doch kann man dem Anblick etwas Erotisches abgewinnen. Ich sollte Schwule fragen, ob ihnen dieses Bild besonders gut gefällt. Noch stärker als bei heterosexuellen Paaren, so meine Annahme, gibt es innerhalb der Homosexualität die Tendenz, sich selbst zu lieben. Indem hier die Liebe mit etwas Leblosem vollzogen wird, gehen Erregung und Befriedigung sogar nur vom Selbst aus. Und weil sich der, durch dessen Glied(er) Blut fließt, in seiner Hingabe dem Tod widmet, klammert er das letzte Fünkchen Art- und Selbsterhaltungstrieb aus. Er geht keinen sexuellen Umweg und schließt gleichzeitig bildlich den jedem Menschenleben zugrunde liegenden Kreislauf. Männliche Potenz trifft hier auf menschliche Vergänglichkeit, wird eins mit ihr.

Bei „Tabu / Kontinuum“ bestimmen wir, wo und ob wir weiter schauen, lesen und navigieren wollen. Wir konsumieren das, was ein anderer lebte und entscheiden schließlich, ob wir uns etwas von dem für uns gelebten Tabu aneignen, indem wir ein Blatt kaufen und es dann besitzen wie eine dekorative Graphik, eine ungewöhnliche Bildergeschichte, eine Trophäe oder wie Beispiele zum Nachahmen.

(Katalog 23. Kasseler Dokumentarfilm- und Videofest, November 2006 - Anne-Kathrin Auel)

.

monografischer Artikel | monographic review
Cristina Nord, "Einblicke ohne Offenbarung", die tageszeitung, Berlin, 31.10.98
monografischer Artikel | monographic review
Robin Curtis, "Situating the Self" (excerpt on MB), Dissertation, 2003

Interview | interview
Steff Ulbrich, interview with MB, excerpt on »TABU I-IV«, printed in:
BERLIN - Images in Progress, Contemporary Berlin Filmmaking, Buffalo, 1989

Interview | interview
Steff Ulbrich, Interview mit MB, Auszug zu »TABU I-IV«, translated and printed in: BERLIN - Images in Progress, Contemporary Berlin Filmmaking, Buffalo, 1989