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Pressestimmen | reviews and articles

BIO (?) Pics
Queere Ich-Entwürfe, gefangen in filmischen Biografien (Exzerpt)
von Jan Künemund


Lebens-Lauf

In seinem experimentellen Langfilm »E.K.G. EXPOSITUS« (2003) setzt sich der Filmemacher Michael Brynntrup mit den Porträts und Bildern auseinander, die öffentliche Medien von ihm produzieren. Er dokumentiert die Dreharbeiten der Fernsehteams in seiner Wohnung, die Interviewsituationen bei Radio-Livesendungen, zeigt die Fremdporträts in voller Länge, auch die darin nicht verwendeten Outtakes, seine eigenen Vor- und Nachbereitungen der Interviews, schließlich integriert »E.K.G. EXPOSITUS« mehrere eigene Kurzfilm-Arbeiten (inklusive Startbandzeichen und Abspann), aus denen die Fremdporträts nur Ausschnitte zeigen.[1]

Diese Mehrfachverschachtelung, -spiegelung und -kommentierung von Selbst und Fremdbildern über das eigene Leben setzt kein 'richtiges' eigenes Bild gegen ein 'falsches' fremdes, sondern macht deutlich, wie üblicherweise Narrationen von Künstler_innen-Lebensläufen funktionieren, in denen Biografie und Werk miteinander kurzgeschlossen und in eine chronologische Ordnung gebracht werden. Von Nonsense-Ideen wie der Illustration des "Lebens-Laufs" als Quasi-Muybridge-Bewegungsstudie eines tatsächlich laufenden Künstlers[2] angefangen, über nicht-signifikante Reihungen von Porträtfotos, die plötzlich mit dem Fazit enden: " ... und dann hat sich das so entwickelt, dass ich Filmemacher geworden bin", bis hin zur fiktionalen Rahmenhandlung, in der ein junger Filmemacher "mit leichter Hirnblutung und schweren inneren Verletzungen" in ein Berliner Krankenhaus eingeliefert und in Narkose versetzt wird, den Kopf verbunden, das Gesicht unkenntlich gemacht, setzen die künstlerischen Strategien in »E.K.G. EXPOSITUS« alles daran, bekannte Formeln biografischer Filmerzählungen ad absurdum zu führen.

Der Reporter des WDR-Teams fordert in einer wiederum von Brynntrup gefilmten Interviewsituation eine dieser Formeln ein: "Zu Anfang einen kurzen Steckbrief - geboren, Ausbildung ... - dass wir wissen: wer ist dieser Michael Brynntrupp? Rein biografisch." Die Antwort Brynntrups bleibt »E.K.G. EXPOSITUS« schuldig, das Angebot der Ich-Erzählung wird ausgeschlagen, wie überhaupt der gesamte Film eine klassische Narration verweigert. Auf Brynntrups eigener Homepage (www.brynntrup.de) wird seine sogenannte 'Bio' in zwei Sätzen zusammengefasst, die sie als kontingent und banal ausweisen: "Tod des eineiigen Zwillingsbruders bei der Geburt, seither Studium der Philosophie. Der Künstler lebt und arbeitet."

[...]

Narkose

Womit wir wieder bei Brynntrup und seiner 'preisgegebenen Herzschrift' (»E.K.G. EXPOSITUS«) wären. Dieser Text, der sein Erzählt-Werden-Wollen immer wieder problematisiert, der sein letztes Bild in der Gesichtslosigkeit und der Narkose seiner Hauptfigur findet, der als Gegenposition keine eigene Ich-Erzählung setzt, sondern stattdessen die Biopic-Erzählversuche der Öffentlichkeit immer wieder ausstellt und hinterfragt, scheint mir als Reaktion auf die von Roof herausgearbeitete Logik der Erzählung zu funktionieren: Identitätskrise, "never perceiving an end as a possibility, as something missing, sacrificed or displaced. (...) This means emphasizing, privileging, locating the repetitions that constitute the terminally unfinished presence of existence, putting repetition, alternation, and accrual in place of progress and closure" (Roof 1996, 182).

Mit Blick auf die Behauptung Roofs, "there is pleasure in repetition, a pleasure associated with the infantile and mentally infirm" (Roof, 1996, 182), lassen sich Brynntrups Strategien der nicht-signifikanten Reihungen als queeres Programm verstehen, die Wiederholungen, die niemals abgeschlossenen Selbstkonfigurationen, die sich in markierten nicht-gelingenden Erzählformeln widerspiegeln: "An dieser Stelle hat der Film sein dramaturgisches Loch", heißt es einmal in »E.K.G. EXPOSITUS«. Und: "Diese Stelle sehen Sie bereits zum dritten Mal".

Brynntrups nicht-erzählerischer, auto-biografischer Biopic-Gegenentwurf verweist übrigens immer wieder, wie alle seine Filme, dezidiert auf das Erkenntnispotential schwuler Erfahrungen. Es sind Erfahrungen, die ihm als Störmomente in sozialen Erzählungen erscheinen und die deshalb experimentelle Suchbewegungen in seinen Filmen auslösen, welche (wie es in einem Interview im Film heißt) gegen "das große Illusionskino" gesetzt sind. Queer Cinema also und kein Biopic.[5]

Der Rat der OP-Schwester an ihren gesichtslosen Patienten, um leichter in die Narkose zu gleiten, lautet vielleicht deshalb ironisch: "Denken Sie einfach an einen schönen Film!"

(BIO (?) Pics - Queere Ich-Entwürfe, gefangen in filmischen Biografien (Exzerpt)
in: Queer Cinema, Ventil Verlag, Mainz, Februar 2018 - Jan Künemund)



Anmerkungen
[1] Unter anderem die beiden preisgekrönten Kurzfilme »AIDE MEMOIRE - EIN SCHWULES GEDÄCHTNISPROTOKOLL« (1995) und »LOVERFILM« (1996}, die zu den bekanntesten Arbeiten des Filmemachers, Video- und Netzkünstlers Brynntrup gehören. Im Zusammenhang dieses Aufsatzes vielleicht interessant ist auch das von ihm initiierte Biopic »JESUS - DER FILM« (1986), in dem er Beiträge mehrerer Filmemacher_innen über das Leben Jesu zu einem Omnibusfilm kompilierte; einzige Gemeinsamkeit der Episoden ist, dass Brynntrup selbst die Hauptfigur spielt.
[2] Der britische Fotograf Eadweard Muybridge (1839-1904) stellte ab 1872 neuartige Serienfotografien über tierische und menschliche Bewegungsabläufe her, die als frühe Beispiele der Chronofotografie gelten.
[5] Für diese Unterscheidung spricht auch, dass andere experimentelle Filmbiografien, die auf historischen, nicht-heterosexuellen Lebensentwürfen basieren, gemeinhin nicht zum Kanon des Biopic-Genres gerechnet werden, so z.B. einige Filme von Derek Jarman (CARAVAGGIO, 1986, EDWARD II., 1991, und WITTGENSTEIN, 1994), sowie ORLANDO (Potter 1992), VELVET GOLDMINE (Haynes 1998) oder WELCOME TO THIS HOUSE (Hammer 2015), Interessant in diesem Zusammenhang ist auch Todd Haynes' queere biografische Annäherung an Bob Dylan, l'M NOT THERE (2007).


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monografischer Artikel | monographic review
Helmut Merschmann, "E.K.G. Expositus" (»E.K.G.EXPOSITUS«), epd-film, Das Kino-Magazin, April 2004
monografischer Artikel | monographic review
Axel Schock, "Alles dreht sich um mich selbst" (»E.K.G.EXPOSITUS«), Berliner Morgenpost, 15.04.04
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Silvia Hallensleben, "Ich in Serie" (»E.K.G.EXPOSITUS«), Der Tagesspiegel, Kultur, 15.04.04
monografischer Artikel | monographic review
Stefan Volk, "E.K.G. Expositus" (»E.K.G.EXPOSITUS«), film-dienst, Nr.08/04, April 2004
monografischer Artikel | monographic review
Diedrich Diedrichsen, "Jeder Film ein kleiner Tod" (»E.K.G.EXPOSITUS«), die tageszeitung, Kultur, 16.04.04
monografischer Artikel | monographic review
Maximilian Le Cain, "Free, Radical" (Festival Report), senses of cinema, February 2005


Interview | interview
Stefanie Schulte Strathaus, Interview zu »E.K.G.EXPOSITUS« am 05.01.04, veröffentlicht in: Katalog des 34. Internationalen Forum des Jungen Films, Filmfestspiele Berlin, 2004
Interview | interview
Stefanie Schulte Strathaus, Interview on »E.K.G.EXPOSITUS« on 05.01.04, translated and printed in: Catalogue 34. International Forum des Jungen Films, Filmfestspiele Berlin, 2004

Interview | interview
Heidi Enzian, Fragebogen zur DV-Technik des »E.K.G.EXPOSITUS«, email Antworten vom 04.02.04; http://www.netloungedv.de/2004/EKG.html


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BIBLIOGRAPHIE | BIBLIOGRAPHY
Einzel-Interviews und -Pressestimmen | single interviews, reviews and articles